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Mutter sagt, es sei ein Brief gekommen. Aus Amerika. Aus Amerika hat mir schon lange niemand mehr geschrieben, und schon gar keinen Brief. Niemand schreibt heute mehr Briefe, nur Banken, Anwälte und Ämter. Es soll zwar wieder ein paar rückwärtsgewandte Spinner geben, die gibt es ja immer, angeblich organisieren sie sich über Apps oder Webseiten, um Brieffreunde zu finden, und dann schwadronieren sie darüber, welch „freudige Sprünge“ ihr Herz mache, wenn der „lang ersehnte“ Umschlag in den Briefkasten „flattere“. Es ist wie mit den Schallplatten, den gebundenen Büchern, den mechanische Uhren, dem Holzfeuer und dem selbstgezogenen Gemüse, aus allem machen sie eine Ersatzreligion.

Religion war eines der Tabuthemen, die uns unser Englischlehrer auflistete als Teil seiner Handreichung zum transatlantischen Austausch. Über Politik könnten wir schon schreiben, offensichtlich vertraute er darauf, dass wir knapp Fünfzehnjährigen andere Interessen hatten als den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing-II-Raketen hinter unserer Schule. Aber bitte nicht über Sex. Wir liefen rot an und kicherten, als ob diese Möglichkeit auch nur im Entferntesten bestanden hätte. Wir hatten nicht einmal in unserer Muttersprache Worte dafür.

Bobby Chilcott war der Name, den ich aus dem Lostopf gezogen hatte. Ich fand den androgynen Namen cool und wollte dem nicht nachstehen. Moni als Spitzname war wirklich gar zu langweilig. Ich ging die aktuellen Charts durch und wurde schnell fündig. Den ersten Brief begann ich, wie alle folgenden beginnen sollten, mit: How are you? I am fine. Wie geht es dir? Mir geht es gut. Ich stellte mich brav als Monika vor und behauptete dann, meine Freunde würden mich aber alle nur Sam nennen. Ich erzählte, wie alt ich war und auf welche Schule ich ging, danach fiel mir nichts mehr ein. Ich zeichnete noch eine selbsterfundene Comicfigur auf die leere untere Hälfte des blauen Papiers, mein Erkennungszeichen, faltete das Blatt zweimal und steckte es in einen der mit blauen und roten Rauten umrahmten Umschläge, die bereits den Aufdruck By Air Mail trugen. Meine Mutter hatte gleich einen Zehnerpack davon besorgt.

Aus Amerika kam damals alles, was gut war, Kinofilme und Fernsehserien, Hard Rock und McDonald’s. Und auch wenn die vielen amerikanischen Soldaten in unserer Stadt meist unter sich blieben, gehörten sie doch zu den bemerkenswertesten Erscheinungen, die die Fußgängerzone zu bieten hatte. Wer etwas auf sich hielt, hörte American Force Network, obwohl keiner von uns auch nur ein einziges Wort verstand. Sehr wohl aber verstanden wir die Begeisterung, die sich durch die anschwellende und abschwellende Stimme des Radiosprechers mitteilte, der in halsbrecherischer Geschwindigkeit zwischen den Songs moderierte. Noch bevor Bobby einen einzigen Satz über sich geschrieben hatte, war mir klar, dass sie das coolste Mädchen des ganzen Universums sein müsse, und allein die Erkenntnis, dass sie sicher mühelos jeden Songtext verstehen konnte, weckte Neid und Bewunderung in mir.

Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, wer mir da geschrieben hatte, als ich den ersten Brief aus Amerika in Händen hielt. Die mir zugeloste Brieffreundin hatte sich mit ihrer Antwort sehr lange Zeit gelassen. Meine Welt hatte sich inzwischen weitergedreht. Jungsgeschichten, wie der Kinobesuch mit dem süßen Typen aus der Parallelklasse, den ich wochenlang aus der Ferne angehimmelt hatte. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber als er dann neben mir saß, roch er ganz ekelhaft nach Kaugummi, und seine kleine Hand war ekelhaft warm und feucht. Ich hielt also den Brief aus Amerika in Händen und starrte verständnislos auf den Absender: Robert Chilcott, stand da. Robert hatte sehr viel geschrieben, selbst die Rückseite des blauen Bogens war fast voll. Er erzählte von seiner Familie und ihrem Haus und seiner Schule und seinem Basketballverein, und wie sehr er sich darauf freue, sein Deutsch zu verbessern, und dass er hoffe, mir bald in meiner Sprache antworten zu können. Seine Handschrift war für mich ungewohnt, ein paar Wörter konnte ich nicht entziffern und einige verstand ich nicht, aber ich war zu faul nachzuschlagen.

Der Gedanke, dass der Brief von Robert sein könnte, ist vollkommen aus der Luft gegriffen, dachte ich, als ich mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage fuhr. Inzwischen war ein halbes Leben vergangen, zwei halbe Leben. Aber seltsam, dass ich nach so langer Zeit sofort an ihn gedacht hatte. Regelrecht überfallen hatte es mich. Nur, weil ein Brief aus Amerika angekommen war. Die Kinder würden das lange Wochenende über den ersten Mai bei ihrem Vater verbringen. Klar war meine Mutter enttäuscht, dass ich alleine zu ihrem Geburtstag kam, aber so war nun einmal die Absprache. Im Grunde funktionierte alles inzwischen recht reibungslos. Auch wenn ich den Weg nach Hause kannte, startete ich aus Gewohnheit die Navigations-App auf meinem Handy, dann die Playlist, die ich mir extra für die lange Fahrt zusammengestellt hatte. Das gehört noch zu den besseren Dingen an einer Scheidung, dachte ich, dass man nicht mehr so tun muss, als möge man die Musik des anderen.

Dem dritten oder vierten Brief hatte Robert ein Foto beigelegt. Es war ein kleines Portrait, wie ein Passbild. Ich habe es nicht mehr genau vor Augen, aber es stammte sicher aus einem Jahrbuch. Dass so etwas fester Bestandteil des amerikanischen Schullebens war, wusste ich damals noch nicht. Ich glaubte, er hatte sich extra für seine deutsche Brieffreundin herausgeputzt und sein schönstes Lächeln aufgesetzt. Dass er hinten To Sam from Bobby draufgekritzelt hatte, war mir Beweis genug. Das Foto stürzte mich in Verzweiflung, denn mit seiner Ankunft war klar, was Robert jetzt von mir erwartete. Ich fand meine Augen zu klein, meine Nase zu groß, und es gab kein einziges Foto von mir, auf dem meine Haare annähernd so aussahen, wie ich mir das gewünscht hätte, und auf keinem Bild lächelte ich so wie er. Seit ich die feste Zahnspange trug, hatte ich mir angewöhnt, den Mund beim Lächeln geschlossen zu halten. Sandra besaß eine Polaroidkamera, ich überschminkte meine Pickel am Kinn so gut es ging, aber das Ergebnis unserer nachmittäglichen Bemühungen war niederschmetternd. So sehr wir auch schüttelten und so hoffnungsvoll wir auch pusteten, keines der Gesichter, das sich aus dem Nebel der Abzüge entwickelte, konnte mit Roberts mithalten. Fand ich. Sandra fand fast alle „süß“, und ich fragte mich, ob sie wirklich meine beste Freundin war.

Ich glaube, wir schrieben uns nicht sehr häufig, oder die Überseepost war damals einfach sehr lange unterwegs. Ich weiß es nicht mehr. Meine Antwortschreiben waren mit der Zeit immer länger und blumiger geworden. Zum Teil lag das an den enormen Fortschritten, die ich in den letzten Monaten im Englischen gemacht hatte. Mein Notenschnitt war von knapp drei auf besser als zwei gerutscht. Englisch war drauf und dran mein Lieblingsfach zu werden. Ich begann, mit verschiedenen Tinten zu experimentieren, lila und türkis, manche davon waren sogar parfümiert. Eine Zeitlang fand ich es schick, mein Schriftbild nach links kippen zu lassen.

Warum ich so sicher bin, dass es ein heißer Sommertag gewesen war, an dem dieser eine Brief kam, kann ich nicht sagen. Aber untrennbar ist die Erinnerung daran mit dem Gefühl verbunden, im Schatten unter dem Kirschbaum zu sitzen und den Umschlag ungeduldig mit klebrigen Fingern aufzureißen, statt ins Haus zu gehen, um die Schere oder den Brieföffner zu holen. Er war von Robert, natürlich, und er begann: Wie geht es dir? Mir geht es gut. Auf deutsch. Er hatte zum ersten Mal auf deutsch geschrieben. Etwa zwei Abschnitte weit war er gekommen, dann entschuldigte er sich tausendfach und beendete das Schreiben in seiner Muttersprache. Die Schlussformel aber lautete: Viel von Liebe an dich.

Die E-Mails meiner amerikanischen Kolleginnen und Kollegen waren voll von vermeintlichen Liebesbekundungen gewesen. Schon der erste Kontakt lief über den Vornamen, und sobald man sich einmal persönlich getroffen hatte, verwandelten sich die „besten“ oder „allerliebsten“ Grüße in hugs and kisses. Die Schulung in interkultureller Kommunikation hätte ich nicht gebraucht, um das alles richtig einzuordnen. Für das Programm zu Persönlichkeitsentwicklung hingegen bin ich meinem Ex-Arbeitgeber heute noch dankbar. Es hatte mehrere Module gegeben, den Abschluss bildete ein mehrtägiges Seminar in einem ehemaligen Kloster. Die Firma hatte sich das alles ziemlich was kosten lassen, und in meinem Fall war es ganz schön nach hinten losgegangen. Zumindest aus Sicht der Firma. Es war eine unglaublich intensive Woche gewesen, das Team aus Trainern und Arbeitspsychologen hatte uns alle an unsere psychischen Grenzen gebracht, manche darüber hinaus. Wildfremde Menschen sagten mir Dinge über mich, die ich bis dahin nicht einmal zu denken gewagt hatte. Die Abschlussaufgabe bestand darin, einen Brief an sich selbst zu schreiben. Er würde versiegelt bei den Veranstaltern bleiben und erst ein halbes Jahr später zugestellt werden. Wenige Wochen, nachdem ich meinen eigenen Brief erhalten hatte, kündigte ich, dann zog ich von zu Hause aus.

Meine Nachrichten-App signalisierte den Eingang einer Nachricht. Und noch eine. Ich widerstand dem Impuls, direkt darauf zu schielen, ignorierte auch das Erinnerungssignal und fuhr auf den nächsten Autobahnparkplatz. Wie erwartet, waren es die Kinder, die das Handy ihres Vaters in die Finger bekommen hatten. Wir vermissen dich, stand da, gefolgt von einer Heerschar von Emojis. Ich antwortete und fuhr weiter.

Robert musste jetzt weit über vierzig sein, ein erwachsener Mann. Erwachsene Männer schreiben keine Briefe, heutzutage schon gar nicht. Wenn er mich hätte kontaktieren wollen, dann hätte er es über das Internet versucht. Er wusste, wie ich heiße, auch wenn ich unter meinem Mädchennamen für viele Jahre unauffindbar gewesen war. Schon seit geraumer Zeit gab es mich wieder. Ich hatte meinen Nachnamen auf allen Online-Portalen geändert, beruflich wie privat, stand sogar mit vollem Namen im Telefonbuch. Aber der Brief war an meine Heimatadresse gegangen, jemand hatte ihn in die Straße geschickt, in der das Haus stand, in dem ich aufgewachsen war. Der Postbote hatte ihn durch den Schlitz in der Tür gesteckt, die die erste Tür gewesen war, die sich in meinem Leben endgültig hinter mir geschlossen hatte. Den Brief aus Amerika.

Es hatte lange vor der Sache mit dem Foto angefangen. Weil mir mein Leben bei Weitem nicht interessant genug erschien, begann ich zu übertreiben. Statt in einer Doppelhaushälfte wohnten wir in einem großen Haus am Hang, aus der Schreinerei meines Vaters wurde eine europaweit tätige Fensterbaufirma, und ich blieb auch kein Einzelkind, sondern hatte plötzlich einen älteren Bruder, der natürlich fürchterlich nervte. Als mir Robert erzählte, dass er sehr gerne schwimme, bauten wir einen Pool in unseren Garten, und als er schrieb, dass sein geliebter Hund von einem Auto überfahren worden sei, bekam ich einen niedlichen Welpen zum Geburtstag, den ich ihm zu Ehren und zum Trost Bobby nannte. Am meisten aber schämte ich mich für das Foto. Ich hatte es aus einem Gruppenbild ausgeschnitten, das die Mädchen unserer Klasse im Landschulheim zeigte. Cordula war unser Star, ach was, sie war der Star der ganzen Mittelstufe, und selbst die Jungs aus der Oberstufe drehten sich nach ihr um. Robert hatte sich sehr dafür bedankt. Er habe das Bild auf Karton geklebt, es gerahmt und auf seinen Schreibtisch gestellt und jedes Mal, wenn er mir schreibe, sei es, als unterhalte er sich mit mir. Wenn ich mir vorstellte, wie er Cordula mit seinen dunklen Augen betrachtete, packte mich die Eifersucht. Aber letzten Endes schrieb er ja mir und nicht meinem Bild.

Mit der Zeit wurden die Dinge immer komplizierter. Weil ich keine Kopien meiner Briefe hatte, legte ich ein Notizbuch an, in dem ich akribisch über meine Lügen buchführte. Er schickte mir jährlich ein aktuelles Foto, jedes Mal war er reifer geworden, auf jedem sah er verdammt gut aus. Ich konnte kein Foto mehr schicken, ließ seine Bitte ins Leere laufen. Einmal fragte er noch nach, dann nicht mehr. Gegen Ende der High School schrieb er, er wolle Deutsch studieren, er habe sich um einen Sommerjob beworben und wenn er genug Geld zusammen hätte, würde er mich besuchen kommen. Es war nicht sein letzter Brief, aber der erste, den ich nicht beantwortete. Zu Weihnachten kam noch eine Karte mit Season’s Greetings. Die ganze Familie Chilcott, Vater, Mutter, die drei Brüder und der Hund. Ich steckte sie in mein Notizbuch und litt, verdientermaßen, wie ich fand. Den folgenden Brief öffnete ich nicht. Schließlich schrieb ich darauf undeliverable, return to sender und warf ihn in den Postkasten. Sollte er doch glauben, ich sei gestorben oder mich hätte sonst ein tragisches Schicksal ereilt. Gewissermaßen stimmte das ja auch. Ich machte Abitur und ging studieren. Ich zog von zu Hause aus, zum ersten Mal, und mit der Zeit vergaß ich Robert.

Fast wäre ich an der Autobahnausfahrt vorbeigefahren. Ich erschrak, weil ich die letzte Stunde überall gewesen war, nur nicht bei der Sache. Ich hatte die Strecke im Blindflug zurückgelegt, hatte nichts gesehen, nichts bewusst aufgenommen. Mit einem Mal war mir ganz übel. Ich beschloss im nächstbesten Gasthof einzukehren. Während ich auf meine Suppe wartete, vertrieb ich mir die Zeit mit Nachrichten an meine Kinder. Nach einer Weile blieben die Antworten aus, vermutlich hatte ihr Vater ihnen das Handy weggenommen. Ich gab die Adresse meines Elternhauses in einen Online-Kartendienst ein und betrachtete es in der Satellitenansicht. Niemand konnte heute mehr verbergen, wie er lebte, sobald er seine Anschrift verraten hatte. Vielleicht war das Briefeschreiben auch deshalb aus der Mode gekommen. Seine Identität in der virtuellen Realität zu polieren war dagegen völlig zeitgemäß. Sandra lag mir schon lange in den Ohren, dass ich mich endlich bei einem seriösen Dating-Portal anmelden solle. Damit sei ich durch, sagte ich dann immer. Und mit der Romantik auch.

Was wäre wohl romantischer als eine Jugendliebe, die nach zwanzig Jahren versucht, da anzuknüpfen, wo der Kontakt abgebrochen war? Vielleicht hatte er noch jahrelang gehofft, seine Brieffreundin würde sich wieder melden, vielleicht hatte er nie geheiratet, vielleicht hatte er geheiratet, war aber nie glücklich geworden, vielleicht hatte er traurige Liebeslieder geschrieben und war berühmt geworden oder Romane, die so übertrieben waren, dass kein Verlag der Welt sie drucken wollte. Eine Zeitlang gestatte ich es mir, mich in immer wilderen und filmreiferen Geschichten zu verlieren. Aber es bereitete mir kein Vergnügen. Ich schämte mich. Meine Suppe wollte mir nicht schmecken, ich aß sie nur zur Hälfte, um wenigstens etwas im Magen zu haben für den letzten Teil der Strecke. Am Ende war Robert wahrscheinlich, genau wie ich, ausgezogen und hatte meine Briefe, die nicht von mir erzählten, und das Bild, das nicht mich zeigte, zu Hause zurückgelassen und schließlich vergessen. So war das im richtigen Leben.

Meine Mutter hielt mich mit ihren Fragen nach den Kindern und meiner neuen Arbeitsstelle und der neuen Wohnung lange in der Küche auf. Geduldig erzählte ich ihr alle Details, aus der Schule und vom Turnverein, von den netten Kollegen und dass ich viel weniger reisen müsse, und ich erzählte ihr von der schönen Aussicht von meiner Dachterrasse über die ganze Stadt. Draußen vor dem Küchenfenster war der Kirschbaum kurz vor dem Aufblühen. Später ging ich hinauf in mein altes Zimmer. Im Laufe der Jahre war alles darin verändert worden. Auf dem kleinen Sekretär, den es früher auch nicht gegeben hatte, lag der blaue Luftpostbrief. Aus Amerika. Hastig riss ich den Umschlag auf und faltete das dünne Papier auseinander. Wie geht es dir?, stand da.

© Daniela Engist, 2020